nGbK am Alex - Karl-Liebknecht-Str. 11/13, Berlin
Ausstellung
Pflanzen sind im urbanen Raum allgegenwärtig: In Park- und Gartenanlagen, am Straßenrand, auf Brachflächen und zwischen Gehwegplatten, aber auch in Geschäften und Restaurants, in Wohnungen, auf Balkonen, in Büros – und nicht zuletzt in Ausstellungsräumen.
Die Ausstellung Orangerie der Fürsorge beginnt mit einer Rauminstallation aussortierter Zimmerpflanzen. Während botanische Sammlungen vermeintlich „wilde“ Pflanzen erforschen und ausstellen, sind hier bereits domestizierte Formen der einst verschleppten Gewächse versammelt. Statt von fernen Ökosystemen zu erzählen, berichtet diese Orangerie von der Welt der Haushalte und Büros als von Pflanzen belebten Räumen. Ausgehend von der Idee eines Para-Gewächshauses hat die Künstler_innengruppe PARA als nGbK-Arbeitsgruppe dreizehn künstlerische Arbeiten eingeladen, die verschiedene Dimensionen der Beziehungsweisen zwischen Mensch und Pflanze im urbanen Raum verhandeln. Video- und Rauminstallationen, Skulpturen, Malereien und Textilarbeiten reflektieren die Kolonialgeschichte der Topfpflanze und die Pflanzenpflege als Teil von privatisierten Praktiken der Lebenserhaltung.
Zur Geschichte der botanischen Gärten
Orangerien wurden im 17. Jahrhundert für die Überwinterung von aus Asien nach Europa importierten Zitrusbäumen in den Gartenanlagen barocker Schlösser entwickelt. Die Gewächse wurden in Kübel und in beheizte, helle Innenräume verlegt. Diese neue Gebäudeart wurde zum Vorläufer der Palmenhäuser: Im Kolonialismus wurde es unter europäischen Aristokrat_innen Mode, sich große Pflanzensammlungen aus den tropischen kolonisierten Gebieten zuzulegen, sie zur Schau zu stellen und erforschen zu lassen. Auch für den Transport von Pflanzen wurde eine gläserne Architektur konzipiert: Mit dem sogenannten Wardian Case konnten erstmals ganze Gewächse (nicht wie bisher nur die Samen oder Wurzeln) aus den Kolonien in die europäischen Metropolen verschifft und dort domestiziert werden. Nach dem Vorbild der botanischen Gärten schmückte sich bald auch das aufstrebende Bürgertum in seinen Wohnräumen mit tropischen Pflanzen.
Die jüngste Ausprägung dieser Geschichte zeigt sich in der Anhäufung verschiedenster Feigen, Palmen, Ficus-, Spargel- und Aronstabgewächse in urbanen Innenräumen heute. Von den zerstörerischen Auswirkungen der Forschungsexpeditionen und Landaneignungen über das Plantagensystem bis zur botanischen Taxonomie, die auch einherging mit rassistischer Naturwissenschaft und der Vernichtung von lokalem Wissen, ist die Geschichte der Botanik tief verstrickt in koloniale Gewalt. Bis heute sind die menschlichen Beziehungen zur Pflanze voller Projektionen auf das „Unbekannte“, das „Unberührte“, aber auch das „Weibliche“, die häufig Ausdruck von internalisierten Mechanismen der Exotisierung und Fetischisierung sind. Sie „naturalisieren“ die (post-)kolonialen und patriarchalen Ausbeutungsverhältnisse, die die ökologischen und die sozialen Lebensgrundlagen zerstören.
Beziehungsweisen und Praktiken der Lebenserhaltung
Doch die Vorliebe der Stadtmenschen, sich mit pflanzlichen Lebewesen zu umgeben und diese auch am Leben zu erhalten, scheint zugleich ein Interesse für „mehr-als-menschliche“ Welten auszudrücken. Die häusliche Pflanzenpflege kann den Sinn dafür schärfen, was es heißt, Verantwortung für andere Lebewesen zu übernehmen. Die Ausstellung stellt daher die Frage, ob das Überdenken der menschlichen Beziehungen zu Pflanzen auch ein Umlernen der menschlichen Beziehungen untereinander fördert. Sie verweist nicht nur auf den Einfluss der Kolonialvergangenheit auf die Art und Weise, wie Menschen mit Pflanzen zusammenleben – sie reflektiert entsprechend auch die Bedeutung von regenerativen und sorgenden Praktiken zur Erhaltung von Ökosystemen.
Im Zusammenspiel der verschiedenen künstlerischen Positionen entstehen Fragen zur Bedeutung von Fürsorge: Was sind die Voraussetzungen für Leben, was umfassen lebenserhaltende Praktiken? Wie belastend ist die Verantwortung, andere Lebewesen zu pflegen? Was bedeutet es, das Lernen über historische Kontexte auch als Teil von Fürsorge zu begreifen? Welche Rolle spielt Einfühlsamkeit? Kann man von Pflanzen reziproke Unterstützung lernen? Welche Bedingungen müssen geschaffen werden, um besser für die Pflanzenwelt und füreinander Sorge zu tragen? Die Künstler_innen der Ausstellung beschäftigen sich mit den Grenzen fürsorglicher Kapazitäten, mit Konstruktionen von Natur und Weiblichkeit und den Spannungen zwischen Schutz und Kontrolle, die der Pflanzen(er)haltung innewohnen.
Die PARA-Orangerie
Diese Themen spiegeln sich auch in der PARA-Orangerie an der Fensterfront wider, die ausrangierte Zimmerpflanzen temporär in Pflege nimmt. Ob zu groß geworden für ihre Innenräume, zu krumm gewachsen für die ästhetischen Vorlieben ihrer Mitbewohnerinnen oder überzählig geworden aufgrund von Büro- und Wohnungsauflösungen – Pflanzen werden immer wieder von ihren Besitzerinnen abgegeben. Auch hier unterscheidet sich die PARA-Orangerie von den botanischen Sammlungen: die Pflanzen werden nicht konserviert und musealisiert, sondern vermehrt und umverteilt. Erhaltung der Lebendigkeit wird nicht als Kontrolle stabiler Lebensbedingungen verstanden, sondern als das Ermöglichen von Veränderung.
Die PARA-Orangerie dokumentiert, transformiert und verteilt: Zimmerpflanzen können sich nicht mehr selbsttätig ausbreiten. Ihr Wurzelwerk stößt an das Innere von Ton- und Plastiktöpfen, ihre Samen können nicht vom Wind davongetragen werden. Vor allem im urbanen Raum nutzen sie jedoch häufig Freundschaftsbeziehungen zwischen ihren menschlichen Mitbewohner:innen zur Vermehrung: Mittels verschenkter Ableger gelangen sie von Wohnung zu Wohnung. Auch die Topfpflanzen der PARA-Orangerie machen sich dieses Prinzip zu eigen. Digital gescannt wandert die Mutterpflanze zunächst in ein neues, unbegrenztes Habitat im virtuellen Raum, der zugleich ihre Geschichte dokumentiert. Sie lässt sich mit Wasser, Licht und Stimme versorgen und durch Ableger vermehren. Die vielen mit ihr genetisch identischen Stecklinge werden im Laufe der Ausstellungszeit an interessierte Besucherinnen verschenkt. Keine der ausgestellten Zimmerpflanzen muss am Ende des Zeitraums aussortiert werden.
Veranstaltungen
An den meisten Veranstaltungstagen findet die Aktivierung der Orangerie durch PARA als offenes Format statt: Besucher_innen sind eingeladen, die Pflanzenpflege zu unterstützen, an der Ablegerproduktion und -verteilung teilzunehmen oder eigene Pflanzen mitzubringen und in Pflege zu geben. Die Uhrzeiten werden regelmäßig auf www.ngbk.de aktualisiert.
Mittwoch, 11. September, 19:00
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
mit DJ-Set von Marylou
Samstag, 14. September, 14:00 - 15:00 (de)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Kuratorische Führung und Pflanzenpflege mit PARA
Samstag, 14. September, 15:00 - 16:00
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
Performance von Anne Marie Maes und Margarita Maximova
Samstag, 28. September, 16:00 - 17:00 (en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔Kuratorische Führung und Pflanzenpflege mit PARA
Samstag, 28. September, 18:00 - 20:00 (en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin➔ Obeah Plant-estries: Environmental Maafa | Ecologies of De-Traumatisation
Lecture Performance und meditatives Ritual von Anguezomo Mba Bikoro, in Kollaboration mit Nane Kahle
Donnerstag, 10. Oktober, 15 Uhr (de/en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Pflanzenpflege und Ablegerherstellung
Workshop mit PARA
Samstag, 12. Oktober, 14–17 Uhr (de)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Colour, Touch, Sound. Encountering the Vegetal 1
Spaziergang und Workshop mit Dunja Krcek
Samstag, 12. Oktober, 18–20 Uhr (en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Colour, Touch, Sound. Encountering the Vegetal 2
Lecture Performance von Mélia Roger, Gespräch mit Dunja Krcek und Mélia Roger, moderiert von Gilly Karjevsky
Sonntag, 13. Oktober, 14 Uhr (de/en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Pflanzenpflege und Ablegerherstellung
Workshop mit PARA
Sonntag, 13. Oktober, 14–17 Uhr (de/en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
Workshop für Kinder mit Josephine Hans
Donnerstag, 17. Oktober, 14 Uhr (de/en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Pflanzenpflege und Ablegerherstellung
Workshop mit PARA
Donnerstag, 24. Oktober, 14 Uhr (de/en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Pflanzenpflege und Ablegerherstellung
Workshop mit PARA
Mittwoch, 6. November, 17:00-18:00 (de)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Kuratorische Führung und Pflanzenpflege mit PARA
Mittwoch, 6. November, 18:30-20:30 (en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
Eine performative Raumaktivierung von und mit Juliana Oliveira Lesung und Gespräch mit Jessica J. Lee
Samstag, 16. November, 17:00 - 18:00 (de)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
➔ Curatorial tour and plant care with PARA
Samstag, 16. November, 18:30 - 20:30 (en)
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
Vorträge, Gespräche und Screening mit Fanny Brandauer, Rob Crosse (tbc), Shirin Sabahi und Bethan Hughes
Sonntag, 17. November, 15:00 - 18:00
nGbK am Alex, Karl-Liebknecht-Straße 11/13, 10178 Berlin
Long duration Konzert von Miki Yui
Credits
Artworks by: Laure Prouvost, Julia Löffler, Anne Marie Maes & Margarita Maximova, Hoda Tawakol, Samir Laghouati-Rashwan, Dunja Krcek, Marlene Heidinger, Shirin Sabahi, Bethan Hughes, Sophie Utikal, Rob Crosse, Jana Kerima Stolzer & Lex Ruetten, Jesse McLean & PARA
Fotos: Jonas Fischer
Grafik: Smile Initial Plus
Web Development Digitale Orangerie: Anna Greunig